Ein Liedgut für alle / Interview mit Sabine Kleinau-Michaelis
Schon seit über zehn Jahren beschäftigt sich Sabine Kleinau-Michaelis, Fachleiterin für EMP-Chor-Tanz an der Musikschule der Landeshauptstadt Hannover mit den positiven Auswirkungen von Musik und Bewegung auf die Sprachentwicklung. Im Auftrag der Stadt erarbeitete sie bereits 2006 ein Konzept für musikalische Angebote im Kita-Bereich, das den Aspekt Sprachförderung besonders im Fokus hatte. Das WimadiMu-Magazin sprach mit Frau Kleinau-Michaelis über ihre Arbeit.
Frau Kleinau-Michaelis, seit Jahren arbeiten Sie mit Musik und Bewegung im frühkindlichen Bereich und beobachten die ositiven Effekte auf die Sprachentwicklung besonders von Kindern mit Migrationshintergrund. Jetzt ist das Thema in aller Munde. Wir wirken Musik und Bewegung auf die Sprache?
Zunächst ist besonders die nonverbale Ebene eine absolut wichtige, vor allem, wenn die Kinder die Sprache nicht können oder aber Probleme haben sich zu äußern, weil sie schüchtern sind oder weil sie phonetische Probleme haben, wie z. B. Stottern. Dann hilft es sehr, wenn man nonverbal mit Musik und Bewegung arbeitet, weil die Kinder ihre Stärken trotzdem finden und ausleben können und nicht gleich etwas Negatives thematisiert wird. In der Folge arbeitet man mit wiederkehrenden Versen und Liedern, die das Sprechen anregen. Ich hatte beispielsweise einmal ein Kind, das in der Kita kein einziges Wort gesagt hat. Es dauerte nur fünf Wochen, bis es zum ersten Mal in meiner Musikstunde gesprochen hat. Von Woche zu Woche wurde das Kind selbstbewusster, lebendiger und fing an Geschichten zu erzählen – aufgrund der Basis, die ich in Musik und Bewegung gelegt hatte. Das war natürlich ein großer Erfolg für alle Beteiligten.
Ist die Entwicklung der Sprache durch Musik und Bewegung schon einmal wissenschaftlich analysiert worden, um diesen Zusammenhang mit Fakten untermauern zu können?
Das ist eine schwierige Frage, denn wie auch bei Therapien muss man sich immer fragen, ob es nur am Musikangebot liegt, oder ob auch andere Begleiterscheinungen eine Rolle spielen. Aber die Fakten liegen eigentlich auf der Hand. Es erscheint immer wieder neue Literatur, die zu ähnlichen Analysen und Schlussfolgerungen kommt wie ich in meinem Konzept. Die positiven Effekte sind nicht von der Hand zu weisen.
In Ihrem Konzept spielen Familien bzw. Kinder mit Migrationshintergrund eine wichtige Rolle. Hat bei der Ausarbeitung auch das heute ebenfalls so wichtige Thema der Inklusion mit hineingespielt?
Da wir letztlich schon immer inklusiv arbeiten – inklusiv bedeutet ja auch Migrantenfamilien miteinzubeziehen – steht das nicht ausdrücklich drin, denn je mehr man das Inklusive herausstellt, desto weniger inklusiv arbeitet man. Darum nennt sich die Musikschule ab diesem Schuljahr auch schlicht „Musikschule der Landeshauptstadt Hannover – eine Musikschule für alle“. Gerade im elementaren Bereich war die Integration beeinträchtigter Menschen für uns kein neues Thema, da wir schon lange mit ALLEN arbeiten, in Kursen, in Kitas und jetzt auch verstärkt in Schulen.
Sprachförderung ist ein langfristiges Thema, ihr Ansatz ein nachhaltiger. Haben Sie manche der Kinder weiter begleitet oder später wieder getroffen und gesehen, wie diese sich entwickelt haben?
Manchmal haben wir das, wenn sie weitere Angebote der Musikschule genutzt haben, aber nicht flächendeckend. Doch was wir machen und was ich auch den Musiklehrkräften und Erzieherinnen zu vermitteln versuche, ist, dass wir ein bestimmtes Liedrepertoire etablieren, das sich wiederholt, sodass Familien, deren Kinder in dieselbe Kita gehen, dasselbe Liedgut lernen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die einzelnen Lieder, sondern darum ein Stückchen Identität, eine kulturelle Heimat zu schaffen und dadurch eine ganze Familie mit diesen Liedern zu prägen.
Heute spielen Kinder mit Fluchterfahrung auch eine besondere Rolle. Verändert sich dadurch die Arbeit in den Kitas, gibt es dazu noch andere Herangehensweisen?
In den Kitas verändert es sich zum Teil, es kann z. B. sein, dass wir die Gruppen etwas reduzieren, wenn Kinder mit traumatischen Erfahrungen dabei sind, oder dass vielleicht eine Lehrkraft auch einmal ein Kind einzeln für zehn bis 15 Minuten musikalisch betreut. Wo sich unsere Arbeit aber ganz anders gestaltet ist direkt in den Flüchtlingsunterkünften, weil die Menschen mit völlig anderen Erfahrungen kommen. Für die Eltern dauert es ein paar Wochen, bis sie verstehen, dass wir nicht ihre Kinder für eine Weile „aufbewahren“, sondern mit einem musikalischen Angebot für Eltern und Kinder zu ihnen kommen. Aber wenn unser Angebot dann bekannter geworden ist, sind die Menschen wirklich dankbar, und man kann unglaublich schöne und eindrückliche Situationen erleben.
Gibt es, seitdem so viele Kinder mit Fluchterfahrung angekommen sind, politischen Druck, neue Angebote zu schaffen?
Auf jeden Fall. Im vergangen Jahr sollten möglichst viele kulturelle Institutionen Angebote schaffen, und das wollten wir auch. Aber im Grunde genommen machen wir seit Jahren nichts anderes, denn wir gestalten niedrigschwellige Angebote für alle, jetzt eben auch in Flüchtlingsunterkünften.
Was würden Sie sich für Angebote von Musik und Bewegung mit dem Hinblick auf die Sprachförderung wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass man sich im Elementarbereich auf ein Liedgut beruft, das es bereits gibt und das unglaublich reichhaltig ist: es reicht vom 15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit. Man muss nicht für jedes Sprachproblem ein Lied erfinden, das keine musikalischen Qualitäten hat und schnell wieder vergessen ist. Denn dann gibt es keine Identifikation, und die liegt mir besonders am Herzen.
Frau Kleinau-Michaelis, vielen Dank für das Gespräch.